Georg Sutterlüty: „Alles schreit nach Freiheit“

Autor Georg Sutterlüty rollt mit seinem Text über die Pocken in Westösterreich rund um 1880 eine Geschichte auf, die aktueller gar nicht sein könnte. Es entspinnt sich eine heftige Debatte um die Maßnahmen und eine Impfpflicht.

 

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  1. Super Beitrag. Bitte mehr davon. Wenn man geschichtlich interessiert ist, echt interessant.

  2. Die Pocken in Vorarlberg: "Alles schreit nach Freiheit"
    31.01.2022 um 07:52
    von Georg Sutterlüty

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    Hauptbild • Illustration aus Edward Jenners maßgeblichem Band über die „Ursachen und Effekte der Pocken“. • (c) Science Source / PhotoResearcher (Science Source) / Picturedesk

    Lech im Jahr 1881: Die Blattern sind zurück. Es entspinnt sich eine heftige Debatte um die Maßnahmen und eine Impfpflicht.

    Mitte September 1881 kam der neue Pfarrer. Ferdinand Bleyle war jung und voller Energie. Solche Eigenschaften waren auch gefragt in einem Bergdorf wie Lech, wo oft lange und steile Wege zurückgelegt werden mussten, um zu seinen Schäfchen zu gelangen. Der Ort lag wahrlich am Ende der Welt, ins benachbarte Warth brauchte man zu Fuß mehr als zwei Stunden, nach Langen ins Klostertal gleich drei. Und im Winter war es ratsamer, das Dorf erst gar nicht zu verlassen, um sich nicht der Lawinengefahr auszusetzen.

    Doch Bleyle hätte nicht erwartet, dass ihn das erste Jahr in Lech derart an seine Grenzen bringen würde. Schuld sollten weder die raue Bergwelt noch der besondere Menschenschlag sein, sondern in erster Linie die Pocken. Schon bei seinem ersten Ausflug machte er mit ihnen Bekanntschaft. Dieser führte ihn über das Gebirge in das benachbarte Dorf Schröcken, wo er einem Bruderschaftstag beiwohnen wollte. Dort wurde er sogleich gebeten, eine am Rande des Dorfes lebende Familie zu besuchen. Geistlicher Beistand sei dringend geboten. Bleyle fand eine sechsköpfige Familie vor, alle Mitglieder mit Pusteln übersät und kreidebleich. Die Mutter, bereits halluzinierend, schien dem Tod sehr nahe. Um Gottes willen, dachte er, was soll ich da ausrichten? Hier bedarf es vor allem ärztlicher Hilfe!

    Nach Lech zurückgekehrt, läuteten auch da bald die Totenglocken. Innerhalb von fünf Tagen starben ein Baby bei der Geburt, ein Kind an der Halsbräune, eine Mutter und ihr einjähriger Sohn an den Pocken. Was braute sich da zusammen? Waren die „unheimlichen Gäste“, wie die Pocken gerne genannt wurden, einmal im Ort, wurde man sie schwer wieder los. Im November berichtete der „Landbote“ von erneuten Ausbrüchen, im Dezember verschied ein zehnjähriger Bub nach fürchterlichen Schmerzen.

    Im Jänner 1882 wurde im „Vorarlberger Volksblatt“ berichtet, die Pocken seien in Lech erloschen, die Haussperren beseitigt. Doch dann starb der Gemeindevorsteher, und wenig später erkrankten vier seiner Kinder; die 19-jährige Tochter sollte dem Vater in den Tod nachfolgen. Als dann außerdem Diphterie-Fälle auftraten, brach beinahe Panik im Dorf aus. Bleyle beerdigte innerhalb von sechs Wochen neun Gemeindeangehörige, die meisten von ihnen waren noch im Vorschulalter. In anderen Jahren lag in dem gut 400 Seelen zählenden Dorf die Todesrate bei durchschnittlich zehn Personen. Der Seelsorger war längst zum Priester, Krankenpfleger und Arzt in einer Union geworden.

    Die Hilferufe vom Berg wurden lauter: Wo bleiben die Behörden, wo bleibt der Bezirksarzt? Dieser ließ sich Anfang März erstmals blicken, um sich ein Bild zu verschaffen, und reiste wieder ab. Ein Korrespondent des „Volksblattes“ wetterte, erst hätten zehn Personen sterben müssen, „bevor der Hr. Bezirksarzt hieher beordert wurde“. Acht Tage später war er wieder da, dieses Mal mit reichlich Impfstoff im Gepäck. Es gab einiges aufzuholen, von der Impfung hatte man im Dorf bisher wenig gehalten. Warum auch, wenn der „unheimliche Gast“ nur alle heiligen Zeiten im Ort vorbeischaute? Der Arzt impfte die Hälfte der Dorfbewohner. Vor allem die Kinder – das zeigten die Sterbematriken – bedurften des Schutzes.

    Noch war man vorsichtig, es gab da und dort ein erneutes Aufflackern. Doch im Juli kam Entwarnung, und es wurde ein Schlussstrich gezogen. Die Blattern hätten „hier arg gehaust“, resümierte das „Volksblatt“. In einem Jahr zählte die Gemeinde 31 Tote: 14 waren an den Pocken verstorben und acht an der Halsbräune. Die Sterblichkeit an der Variola betrug sage und schreibe 35 Prozent. Die vermeintlichen Ursachen für diese Katastrophe waren rasch gefunden: Die Behörden seien viel zu leichtsinnig gewesen.

    Die Epidemie hatte ihren Ursprung im Klostertal gehabt, wo seit 1880 Tausende Arbeiter beim Bau der Arlbergbahn beschäftigt waren. Im Sommer 1881 brach in den Lagern die Krankheit aus, und das Virus breitete sich rasch über das ganze Tal aus. So gelangte es auch über den Flexen an den Tannberg. Die Pocken seien mit der Bahn gekommen, behaupteten die Lecher, und die Behörden hätten es verabsäumt, entsprechende Vorsorge gegen deren Verbreitung zu treffen.

    Nur wenige Zeit später, im September 1882, trafen sich die Mitglieder des Vereins der Vorarlberger Ärzte zur jährlichen Hauptversammlung. Angeregt diskutierten sie über den Gesundheitszustand im Land. Die Ärzte prognostizierten, dass „die Blattern-Seuche künftig noch heftiger und verheerender auftreten dürfte“. Als Gründe gaben sie an: die „überhandnehmende Impffreiheit, Ueberbevölkerung, Wohungsmangel, Ueberhandnehmen des Fabriksproletariats und der ausländischen Arbeiter sowie das Ueberfluthetwerden des ganzen Landes von Landstreichern aller Art“. Dem Landtag übergaben sie eine Petition mit der Forderung, sich um die Errichtung von „Blattern-Spitälern“ in den Gemeinden zu kümmern, um bei Ausbruch einer Epidemie die Infizierten schnell isolieren zu können.

    Die Idee der strengen Isolierung entsprang dem sich gerade vollziehenden Paradigmenwechsel in der naturwissenschaftlichen medizinischen Forschung. Die Miasmentheorie verlor zunehmend ihre Anhänger, nachdem Louis Pasteur Keime als Infektionsverursacher hatte ausmachen können. Die Naturwissenschaften hätten gezeigt, schrieb die „Feldkircher Zeitung“ 1877, „dass in allen Fällen sich ein Giftstoff von dem Kranken auf den Gesunden überträgt, der höchst wahrscheinlich von außerordentlich kleinen organischen Körperchen ausgeht“. Auch die Statthalterei in Innsbruck griff die neuen Erkenntnisse auf. 1883 und 1884 verabschiedete sie – sich berufend auf die Sanitätsgesetze vom 30. April 1870 – zwei Verordnungen für Tirol und Vorarlberg, die bei „Gefahr des Auftretens gemeingefährlicher Krankheiten“ (namentlich bei Blattern, der asiatischen Cholera und Flecktyphus) anzuwenden wären.


    Blatternkranke wurden isoliert

    Neu geregelt war, dass jetzt nicht mehr zugewartet werden durfte. Schon die ersten Anzeichen einer Pockenerkrankung, etwa Fieber und Hautveränderungen, mussten der Gemeindevorstehung gemeldet werden, welche wiederum sofort der Bezirksbehörde zu berichten hatte. Der Blatternkranke musste in einem Zimmer isoliert werden, Familienmitglieder sollten dieses meiden und durften das Wohnhaus für eine bestimmte Zeit nicht mehr verlassen. Nur der „Abwarterin“, der Krankenpflegerin, gewährte man Zutritt zum Kranken, doch auch diese sollte jeglichen Kontakt mit der Außenwelt unterbinden. Genaue Vorschriften gab es nun auch für die Bestattung: Die Leiche musste innerhalb von 24 Stunden, „entweder in früher Morgen- oder später Abendstunde in aller Stille“, beerdigt werden. Weitere Regeln betrafen die Desinfektion und das Wirtschafts- und Gemeinschaftsleben im Dorf, das empfindlich eingeschränkt werden musste.

    Als im August 1884 in der Stadt Feldkirch und wenige Monate später in der benachbarten Marktgemeinde Rankweil eine Pockenepidemie ausbrach, sollten die Verordnungen in Vorarlberg erstmals zur Anwendung kommen und ihre Bewährungsprobe erleben. In Feldkirch zog sich der Verlauf anfangs endemisch dahin, die Kranken wurden im Spital in eine abgesonderte Abteilung gebracht und betreut. Doch bald kursierten im Land die wildesten Gerüchte über den Verlauf: Aus dem schweizerischen Rorschach wurde vermeldet, täglich würden sich in Feldkirch 60 Personen neu infizieren. Um der Rufschädigung entgegenzuwirken, schließlich lebte die Stadt zu einem nicht unbedeutenden Teil vom Handel, wurden fortan in der „Feldkircher Zeitung“ fast wöchentlich die exakten Krankenzahlen publik gemacht. Dabei wurde auch der Impfstatus der Erkrankten angegeben.

    Als sich im November 1884 auch in Rankweil die Pocken verbreiteten, entbrannte ein heftiger Streit zwischen der Stadt und der Marktgemeinde. Die Rankweiler waren keine gern gesehenen Gäste mehr in Feldkirch. In der Stadt machten Gerüchte die Runde, in der Nachbargemeinde würden die strengen „Vorsichtsmaßregelungen“ nicht eingehalten, Familienmitglieder von Erkrankten die häusliche Quarantäne ignorieren. Folglich würde die Krankheit ständig nach Feldkirch verschleppt. Als Anfang Jänner 1885 die Behörden den umtriebigen Viehmarkt in Rankweil absagen ließen, während der Wochenmarkt in Feldkirch stattfinden durfte, gingen die Wogen beängstigend hoch. Im „Volksblatt“ erhoben erboste Gemeindebürger das Wort: „Warum wird den Bauern auf dem Lande nicht gestattet, was den Herren in der Stadt erlaubt ist?“

    Einmal mehr war der damals latent köchelnde, von unterschiedlichen Weltanschauungen geprägte Konflikt zwischen Stadt und Land ausgebrochen. Gemeinhin kamen aus dem ganzen Land bissige Kommentare, die Absonderungsmaßnahmen seien völlig überzogen und würden jeglicher Logik entbehren. Da hätten sich akademisch Gebildete etwas Unsinniges ausgedacht und vertrauten blind dem „Dogma der medizinischen Wissenschaft“. Ein Bauer fragte, warum er sich zu Hause einsperren müsse. Glaube man wirklich, er würde bei Holzarbeiten im Wald die Tannen anstecken? Ein anderer Kommentar hob die Diskussion auf die nächste Ebene: Alles „schreit nach Freiheit und überall ist Zwang: Schulzwang, Impfzwang (wenigstens gelinder), Sperrzwang und Militärzwang. Nur der Kirche gegenüber will man nichts wissen von Zwang.“

    Die Replik sollte nicht auf sich warten lassen. Man vergesse allzu leicht den Grundsatz, schrieb eine unbekannte Person im „Landboten“, „daß das Privatwohl dem Gemeindewohl unterzuordnen ist“. Das „Absperren“ könne „aus Rücksicht auf das öffentliche Wohl ihnen leider nicht erspart werden“. Die „Maßregeln“ gründeten auf Wissenschaft und Erfahrung und würden so lange berechtigt sein, „bis deren Nutzlosigkeit genügend erwiesen ist“.

    Sosehr die neuen Sicherheitsvorkehrungen für Unmut in der Bevölkerung sorgten, das heißeste Eisen sollte die Pockenschutzimpfung bleiben. In den 1880er-Jahren spitzte sich die Frage der „obligatorischen Impfung“, so der Ausdruck in der Behördensprache, merklich zu. Der Grund war, dass Deutschland, das 1874 eine verpflichtende Impfung eingeführt hatte, erfreuliche Zahlen zum Schutz vor dem „unheimlichen Gast“ vorweisen konnte. Sie wurden auch hierorts publik gemacht und mit jenen in der Habsburgermonarchie verglichen. So konnte man im Dezember 1885 in der „Vorarlberger Landeszeitung“ lesen, dass Wien zu jener Zeit eine fünfzigfach höhere Pocken-Sterblichkeitsrate aufwies als Berlin. Aber man musste gar nicht über die Landesgrenzen blicken. Auch in Feldkirch zeigte sich deutlich, dass vor allem ungeimpfte Kinder an der Variola erkrankten und daran verstarben.

    Angetrieben von Ärzten und Wissenschaftlern, gedachte die Regierung in Wien, eine „obligatorische Impfung“ durchzusetzen. Sie lag also in der Luft, auch hierorts wurde angenommen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie eingeführt würde. Doch Wien lavierte. Das wiederum wurde den Vorarlberger Behörden zu bunt. Sie verschärften eigenständig die Regeln für Impfunwillige, sich dabei auf die Verordnung der Statthalterei von 1883 berufend. Die Eltern wurden verpflichtet, mit ihren Kindern beim jährlichen Impftag im Ort zu erscheinen. Wer die Vakzination ablehnte, musste sich erklären und damit rechnen, einer Vorladung der Bezirksbehörde Folge leisten zu müssen. Dies alles bei Strafandrohung bei Zuwiderhandlung.

    Dagegen regte sich nun lautstarker Widerstand, dieses Mal aus dem Bregenzerwald. Der Andelsbucher Gemeindearzt, Dr. König, war ein deklarierter Impfgegner, der dafür bekannt war, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als die Behörden in Bregenz im Juni 1885 ankündigten, die Impfung in seiner Gemeinde vorzunehmen, stieg er auf die Barrikaden. In einem namentlich nicht gezeichneten Artikel im „Volksblatt“ – doch jeder war sich über den Verfasser des Textes im Klaren – verurteilte er die indirekte, seiner Ansicht nach durch den Reichsrat nicht gedeckte Impfpflicht. Er zählte die Schäden durch die Impfung auf, vor allem die vielen Nebenwirkungen wie Ausschläge, Drüsenkrankheiten, Gichter und Gehirnentzündungen. Die Kinder in Andelsbuch wären deshalb, weil ja nicht geimpft, gesünder als anderswo, wo fleißig geimpft würde.


    „Wohlthaten der Impfung“

    Das konnte der Bezirksarzt in Bregenz so nicht stehen lassen. Er fragte, woher der Schreiber aus Andelsbuch von den Nebenwirkungen der Vakzination wissen wolle, wenn die Kinder in seiner Gemeinde schon seit Langem nicht mehr geimpft worden wären. Und überhaupt „nicht der leiseste wissenschaftliche Versuch gemacht wurde, das für die Impfung Maßgebende (die Erfahrung) zu entkräften“. Der Bezirksarzt verwies einmal mehr auf die „Sanitäts-Statistiken“, mittlerweile mit Millionen von Zahlen gefüttert, welche „die Impfung als den mächtigsten Schutz gegen die Blattern immer wieder und wieder empfohlen“.

    Dr. König entgegnete hierauf, dieses Mal mit gezeichnetem Namen, man solle nicht ständig mit Zahlen hantieren, sondern einfach nur die Mütter nach ihren Erfahrungen fragen. Zudem machte er Werbung für die Gründung eines Impfgegnervereins in Vorarlberg, um gezielter gegen den Impfzwang wirken zu können. Schließlich meldete sich noch ein Außenstehender zu Wort, der zugab, dass es schwierig sei, sich mit den Verfechtern des Impfzwanges zu duellieren, denn „wir können ihnen nicht auf wissenschaftlichem Gebiet folgen“. Aber es sei eine Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung „von den Wohlthaten der Impfung nicht überzeugt“ sei. Es könnten daher „die Gegner des Impfzwanges denn doch nicht so vornehm ignorirt werden“. ■
    Georg Sutterlüty

    Der 1974 geborene Historiker und Publizist ist Obmann des Kulturvereins Bahnhof in Andelsbuch und Herausgeber des „Bregenzerwald Lesebuchs. Einblicke in die Talschaft an der Ach“. Er lehrt an der HTL Dornbirn Bewegung und Sport, Geschichte sowie Ethik.
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    Es ist schon kurios, wenn man die Argumente der Impfgegner von damals und heute vergleicht - wenn es nicht so tragisch wäre müsste man lachen
  4. Danke, Monika, ABER der ganze Artikel "erscheint" einfach nicht, nur ein Teil und dann müsste man sich anmelden/registrieren oder kaufen.
    Eigenartig, dass es offensichtlich bei mir nicht funktioniert. Schade, würde gerne den gesamten Artikel lesen. Vielleicht kann ihn egg-news ja direkt online stellen.
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  6. Frage: kann man den ganzen Artikel lesen ohne dass man sich da anmeldet oder gar was bezahlt? wenn ja, wie?