„Ein Virus im Dorf“ – Carmen Willi berichtet … (Bericht #10)

„Ein Virus hat unser aller Leben verändert. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausbreitung getroffen wurden, bestimmen nun unseren Alltag. Jede Person macht ihre eigenen Erfahrungen – Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

 

In Zusammenarbeit mit Georg Sutterlüty haben wir ein Projekt gestartet. Wir wollen wissen, wie Eggerinnen und Egger (sowie einzelne BregenzerwälderInnen umliegender Gemeinden) mit der Krise umgehen: Was hat sich in ihrem Leben verändert, welche Herausforderungen gibt es und was erhoffen sie sich nach Beendigung dieser schwierigen Phase? Wir haben ganz kunterbunt nach Personen gesucht, die bereit sind, ihre persönliche Geschichte zu schildern. Wir beginnen mit dem ersten Bericht und wollen jeden zweiten Tag den nächsten veröffentlichen.

 

Bereits veröffentliche Berichte werden von uns ins Archiv verschoben, sind aber weiterhin hier für euch verlinkt:

 

Bericht 9: Hugo Waldner (72), Bauer und Alt-Vizebürgermeister, Freien

Bericht 8: Magdalena Vögel (36), Personalentwicklerin und Mama, Schwarzenberg

Bericht 7: Samuel Schwärzler (27), und Vize-Obmann des FC Egg, Rain

Bericht 6: Friedl Kaufmann, Pfarrer von Egg und Großdorf

Bericht 5: Jürgen Zengerle (29), Krankenpfleger in KH Dornbirn, Hof

Bericht 4: Lisa Schmidinger (28 Jahre), Krankenpflegerin, Wohnort Schmarütte

Bericht 3: Wilhelm Sutterlüty (63), Geschäftsführer Sozialzentrum Egg, Schmarütte

Bericht 2: Marcel Simma , Schüler der HTL Dornbirn, Stadel

Bericht 1: Brigitte Bereuter (40), Gemeindeangestellte, Mutter und Hausfrau, Rain

 

Kommentare sind erwünscht, doch bitten wir aus Rücksicht auf die Autoren, den vollen Namen sowie den Weiler, in dem ihr wohnt, anzugeben.“

 

Bericht 10: Ein Blick in die leere Lebendigkeit unserer Schule …

Ich merke, wie Zeit und Planbarkeit eine neue Dimension bekommen. Ende Februar prophezeit ein Arbeitskollege: „Wetten, in zwei Wochen sind wir nicht mehr in der Schule – unsere Schulen sind dann zu!“ Schmunzeln im Lehrerzimmer: „Niemals!“ 16 Tage später ist es soweit. Unvorstellbar.

 

Virologen bringen aktuell die gefragteste Expertise ein. Die ist enorm wichtig, um ein- und abschätzen zu können, wie wir mit diesem Virus umgehen müssen. Dass auch die Virologen ganz unterschiedliche Sichtweisen haben, macht die Sache nicht einfacher, ist aber völlig natürlich. Auch wenn wir der Meinung der Virologen Gehör schenken, die unsere Entscheidungs- und VerantwortungsträgerInnen beraten, gibt es viele weitere Aspekte – zur „Virensicht“ dazu. Ein Aspekt ist der Blick in unsere Familien, in unser Bildungssystem, in unser Sozialsystem.

 

Wir tun alles, damit unsere Systemerhalter nicht in Quarantäne müssen, weil das System sonst nicht mehr funktioniert. Haben wir im Blick, dass auch andere Systeme so nicht funktionieren? Zumindest mittelfristig. Immer wieder neu müssen wir uns die Frage der Verhältnismäßigkeit stellen. Selbst wenn man eine große Wohnung hat und auf dem Land lebt, ist es nicht immer leicht, 24 Stunden beieinander zu sein. Das kann Spuren hinterlassen. Aber in der aktuellen Lage gibt es keinen Familiendienst und keine professionelle Sozialeinrichtung, die nach Hause kommt oder direkte Beratung ermöglicht – ausschließlich am Telefon.

 

Es geht wieder einmal um die Schwächeren, um Familien, um Bildung, um Soziales ganz allgemein. Es geht auch um Isolation und Vereinsamung – und deren Auswirkungen auf unser Immunsystem.
Wenn ich an das schrittweise Öffnen der Schulen und Kindergärten denke, dann geht es absolut nicht um die Frage, wie wir unseren Schülerinnen und Schülern diesen oder jenen Fachinhalt heuer noch „beibringen“. Was sind schon zwei Monate Schulzeit – im Verhältnis zur Zeit, in der wir leben und lernen? Gar nichts. Es geht um den Rahmen, den Schule uns, unseren Familien, unserer Gesellschaft ermöglicht und um all jene Strukturen, die mit Schule in Verbindung sind. Es geht darum, dass Kinder Kinder brauchen. Dass wir alle soziale Wesen sind. Das kann eine Zeit lang auf ein Minimum reduziert werden, keine Frage. Und immer wieder neu muss überlegt werden, welche Maßnahme was auslöst. Diese Frage ist zulässig und wichtig. Auch im Blick auf Familien.

 

Und vielleicht gibt es Bereiche, die in der Not möglich wurden und Impulse für die „Zeit danach“ sind – wieder mit dem Blick auf unsere Kinder und das Leben, das in voller Länge vor ihnen liegt:
­* die Videokonferenz statt dem Geschäftsflug nach China
­* ein Tag pro Woche Homeoffice um Work- und Life-Balance nicht zu trennen, sondern alles als Life-Balance zu sehen
­* flexiblere Arbeitszeiten, um Arbeit und Kinderbetreuung besser verbinden zu können
­* individuelleres Kümmern um einzelne Schülerinnen und Schüler in der Schule
­* das Bekenntnis zum regionalen Handel – mit der dazugehörenden Frage, woher das Produkt unseres regionalen Händlers denn kommt

 

Ich wünsche mir, dass wir ins Umsetzen kommen von dem, wozu uns die jetzige Situation mahnt.

 

Die Frage, wie wir diesen Krisenmodus wieder verlassen, wird jeden Tag wichtiger. Es braucht sicher eine sorgfältige Balance zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Vorgabe. Nicht nur jetzt. Wie können wir Menschen schützen, wenn das öffentliche Leben langsam wieder anläuft? Wie können wir auch in die soziale Infrastruktur weiter investieren, wenn die Wirtschaft unsere Fördermittel jetzt zweifelsohne dringend benötigt. Kein Gegeneinanderausspielen. Keine Frage des Entweder-Oder. Ein Sowohl-als-Auch.

 

Wir alle haben es schon lange gewusst: Wachstum und Luxus können nicht immer mehr werden.
Was wird der Impuls dazu sein?

 

Ich für mich bin dankbar, dass der Virus zwar eine Gefahr ist – aber kein Feind.

 

Ich freue mich sehr bis Schule wieder das sein darf, was sie ist: Lebens- und Lernraum für unsere Schülerinnen und Schüler und uns Lehrerinnen und Lehrer – ein Ort der Gemeinschaft und des Miteinanders, der Struktur und des Alltags, des Spielens und Lernens, des Erlebens und Entdeckens. Unser Sozialraum. Der Regenbogen im Fenster der Aula unserer Schule deutet es an: Es wird wieder. Darauf vertraue ich.

 

Carmen Willi, Leiterin VS Egg, Hof

Deine Meinung

  1. danke für Deine Worte. Hoffentlich nehmen wir das mit.
    Übrigens wäre es toll, wenn diese Berichte einige Zeit nach der Corona-Krise nochmals zum Nachlesen wären - gegen das Vergessen.