„Ein Virus im Dorf“ – Wilhelm Sutterlüty berichtet …
„Ein Virus hat unser aller Leben verändert. Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausbreitung getroffen wurden, bestimmen nun unseren Alltag. Jede Person macht ihre eigenen Erfahrungen – Erfahrungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
In Zusammenarbeit mit Georg Sutterlüty haben wir ein Projekt gestartet. Wir wollen wissen, wie Eggerinnen und Egger (sowie einzelne BregenzerwälderInnen umliegender Gemeinden) mit der Krise umgehen: Was hat sich in ihrem Leben verändert, welche Herausforderungen gibt es und was erhoffen sie sich nach Beendigung dieser schwierigen Phase? Wir haben ganz kunterbunt nach Personen gesucht, die bereit sind, ihre persönliche Geschichte zu schildern. Wir beginnen mit dem ersten Bericht und wollen jeden zweiten Tag den nächsten veröffentlichen.
Bereits veröffentliche Berichte werden von uns ins Archiv verschoben, sind aber weiterhin hier für euch verlinkt:
Bericht 2: Marcel Simma , Schüler der HTL Dornbirn, Stadel
Bericht 1: Brigitte Bereuter (40), Gemeindeangestellte, Mutter und Hausfrau, Rain
Kommentare sind erwünscht, doch bitten wir aus Rücksicht auf die Autoren, den vollen Namen sowie den Weiler, in dem ihr wohnt, anzugeben.“
Bericht 3: Wilhelm Sutterlüty – Eine Herausforderung für die Pflege – doch neue Perspektiven für die Zukunft?
Da werkt man in aller Ruhe vor sich hin, versucht, das Richtige zu machen und – wenn möglich – auch noch Freude und Spaß daran zu finden. Nebenbei hört man von einer neuen Krankheit im fernen China. Was berührt das uns…?
Urplötzlich steht dieses Gespenst dann mitten in Europa, im Nachbarland, direkt bei uns. Alles ist in Aufruhr, natürlich auch im Pflegeheim. Besteht unsere Bewohnerschaft ja zur Gänze aus den ausführlich beschrieben Hochrisikopersonen: hohes Alter, Vorerkrankungen, meist angeschlagenes Immunsystem.
Rasches Agieren ist gefordert; mit der nötigen Ernsthaftigkeit und gleichzeitig unaufgeregt, um Hysterie und Angst zu vermeiden. Übers Wochenende wird ein Konzept aus dem Boden gestampft, eine rasant steigende Zahl von Erlässen, Verordnungen und behördlichen Auflagen muss eingearbeitet werden. Besuchsverbot – schmerzlich, aber unumgänglich. Getrennte Teams für Pflege, Reinigung und Küche. Ab sofort neue Dienstpläne, Schnittstellendefinitionen, um Kontakte zu reduzieren, Informationsschreiben für Angehörige, Absperrungen, Kontrollen…
Lauter Dinge, die unseren Pflegegrundsätzen widersprechen: Wir wollen Beziehung aufbauen und halten mit unseren BewohnerInnen, Nähe und Geborgenheit leben, Kontakt pflegen und das Gespräch suchen. Das soll alles nicht mehr stattfinden dürfen?
Mit erstaunlicher Gelassenheit nehmen die BewohnerInnen die „Neuerungen“ zur Kenntnis; unbeeindruckt jene, die in ihrer Demenz in einer eigenen Welt leben; mit Verständnis jene, die interessiert den Erklärungen zum „wieso“ und „warum“ folgen, und einige mit Ärger und Enttäuschung, dass Liebgewordenes jetzt ausfallen soll.
Grandios der Zusammenhalt unter den MitarbeiterInnen. Um die bestmögliche Versorgung unserer BewohnerInnen zu garantieren, wird improvisiert, unterstützt, umgestellt. Im Wissen, dass alle Maßnahmen aus der Sorge um unsere BewohnerInnen, aber auch ganz besonders um die Gesundheit unserer MitarbeiterInnen notwendig sind, tritt eine beeindruckende Solidarität zu Tage.
Aber auch Betroffenheit über die neue Situation: das gelebte „Miteinander“, der kollegiale Austausch, der Mitarbeiter-Stammtisch, alles fällt aus! Werden wir unser Haus „sauber“ halten können, werden wir selbst verschont bleiben, unsere Familien, PartnerInnen, Kinder?
Und trotz allem läuft der Betrieb, man versucht, möglichst viel Normalität zu leben. Plötzlich tun sich ganz neue Perspektiven auf; scheinbar Denkunmögliches wird zur Realität, in verblüffend kurzer Zeit, scheinbar ohne Widerstand. Und der Terminkalender gähnt einem leer entgegen; nein, nicht ein oder zwei Abendtermine weniger – nichts, gar nichts, keine einzige Sitzung! Und keine Verpflichtung zur Geburtstagsfeier, zum Meeting, zum Vereinstraining. Sollte sich da gar etwas Entspannendes bemerkbar machen? Und der Einkauf hat schon fast etwas Sakrales an sich. Nicht gedankenlos und selbstverständlich wird nach den Lebensmitteln gegriffen. Fast ehrfürchtig und mit tiefer Freude, dass alles da ist, was man braucht, füllt sich der Wagen. Und leise und fast gemächlich rollt der Straßenverkehr und wir eilen nicht von Termin zu Termin, von Ort zu Ort, von allem weg.
Vielleicht nehmen wir die Chance wahr, wenn Corona den eisernen Griff wieder lockert und retten etwas hinüber in die „neue Normalität“ – etwas weniger Dichte in den Terminen, eine neue Bescheidenheit in den Ansprüchen, eine gestiegene Rücksichtnahme auf Natur und Umwelt. Eine Chance hatten wir ja schon: 2008 und in den Folgejahren der Finanzkrise wäre es an der Zeit gewesen umzudenken. Statt- dessen: Noch mehr vom Gleichen, noch mehr Geschwindigkeit, noch größere Konglomerate. Vielleicht nehmen wir diesmal die Chance war, hoffentlich ist es nicht die letzte…
Wilhelm Sutterlüty (63), Geschäftsführer Sozialzentrum Egg, Schmarütte
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Corona - ein Virus im DorfDeine Meinung
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Wilhelm, das hast du schön geschrieben und vielleicht tritt ja was aus dem letzten Abschnitt ein....?
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....sehr gut geschrieben Wilhelm, deine Aussagen kann man nur unterstreichen!!
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Super Bericht Wilhelm. Bloß glaub ich das auch dieses Mal wieder viele nichts draus lernen und genau so weitermachen wie davor. Schade eigentlich
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wilhelm du hast die richtigem abschlussworte gefunden, echt schön geschrieben. lg
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Tolle Idee dieser Berichte-Reihe auf egg.news und 👍 Bericht von Wilhelm Sutterlüty. Ich hoffe auch, dass es viele der gebotenen Chancen in die Zukunft schaffen.