Die Zivilcourage von 1989 fehlt uns heute sehr
Zu den Sternstunden der Menschheit zählt der Fall der Berliner Mauer 1989. Der Mut der Bürgerrechtler stürzte damals das Monstrum.
Es war ein grandioses, ein wunderbares Jahr. Mutige Menschen begehrten 1989 gegen autoritäre Herrscher auf und stürzten reihenweise die Despoten. Michail Gorbatschow, damals Kremlchef, hielt nicht länger die schützende Hand über die Führer der Satellitenstaaten. Als „Held des Rückzugs“ avancierte er zum Weltenbeweger. Der Eiserne Vorhang, der Europa in zwei Hälften zerschnitt, wurde niedergerissen. Ohne großen Knall ging nach vier Jahrzehnten der Kalte Krieg zwischen Ost und West zu Ende. Die Hoffnung auf eine bessere, friedlichere Welt konnte keimen.
Entscheidend für diese Umsturz ereignisse an der Peripherie des Sowjetreichs war die Ermüdung des Zentrums. Das kommunistische System war gescheitert, politisch wie ökonomisch. Vergebens war deshalb Gorbatschows Versuch einer „Reform“. Wider Willen wurde dieser Mann zum Demonteur des sowjetischen Imperiums. Doch zur Selbstaufgabe der Macht kam die Massenbewegung gegen die KP-Regime hinzu. Nicht Männer, sondern Menschen machen Geschichte. Freiheit war, exakt 200 Jahre nach 1789, der zentrale Ruf auf den Kundgebungen von 1989. Aber auch Gleichheit und Solidarität, die anderen Hauptforderungen der Französischen Revolu tion, einten und motivierten die Akteure der „sanften Revolution“.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer gibt es an den großen Errungenschaften von 1989 nicht einen Funken Zweifel. Für die Deutschen ist es das unverhoffte Glück, dass sich das in zwei gegensätzliche Staaten geteilte Land wieder vereinen konnte. Für die Völker Ostmitteleuropas zählte in erster Linie, dass sie nach Jahrzehnten der Knechtschaft unter sowjetischem Joch ihre nationale Souveränität wiedererlangten. Vor allem brachte 1989 einen enormen Freiheitsgewinn für Millionen Menschen in Ostmitteleuropa. Auch die junge Generation, die die Euphorie von 1989 kaum noch teilt, kann sich die Welt nicht mehr vorstellen ohne demokratische Rechte und die Möglichkeit ungehinderten Reisens im neuen Europa.
Dennoch darf man heute fragen, ob seit 1989 auch Chancen verpasst worden sind. Die größte Enttäuschung ist sicher, dass es nicht gelungen ist, dauerhaft ein konstruktives Verhältnis des Westens zu Russland zu finden. Der Westen sei schuld daran, heißt es von russischer Seite, weil er sein Wort gebrochen und die Atlantische Allianz immer weiter in den Osten ausgedehnt habe. Doch zur Freiheit der neuen Demokratien in Ostmitteleuropa gehörte auch die eigenständige Wahl der Bündnisse. Die Ostmitteleuropäer selbst drängten in die NATO, weil sie die Angst vor Moskaus Vorherrschaft nie abschütteln konnten. Wladimir Putins neoimperiale Politik gibt ihnen nachträglich recht. Trotzdem muss Europa versuchen, wieder kooperative Beziehungen zu Russland zu entwickeln.
Die zweite Enttäuschung ist, dass sich die Europäische Union 25 Jahre nach dem großen Umbruch in einem derart kritischen Zustand befindet. Politisch zerstritten sind die Regierungen, sozial zerklüftet die Mitgliedsländer. Dabei hat die EU mit ihrer Osterweiterung wesentlich dazu beigetragen, die neuen Demokratien in der schwierigen Transformation, die ein „Tal der Tränen“ war, zu stabilisieren.
Die Ungarn hätten dafür, dass sie 1989 die Grenze für DDR-Flüchtlinge öffneten, als „Prämie“ eine rasche EU-Integration erwartet, sagt György Dalos. „Frustrierend“ sei es folglich gewesen, so der Schriftsteller in einem SN-Gespräch, dass sie bis 2004 auf einen Beitritt hätten warten müssen. 20 bis 30 Jahre werde es wohl noch brauchen, bis Ostmitteleuropa annähernd das Lebensniveau von Westeuropa erreicht habe.
Polen und die baltischen Länder haben dank radikaler Reformschritte eine erfolgreiche Aufholjagd gestartet. Dort, wo alte Kader, Strukturen und Mentalitäten weiterwirken, kommt dieser Prozess nur mühsam voran. Einzig durch Druck aus Brüssel lassen sich etwa in Rumänien oder Bulgarien, EU-Mitglieder seit 2007, Reformen durchsetzen.
Die dritte Enttäuschung ist, wie wenig das neue Europa die Demokratie in Ehren hält. Das gilt für Politiker, die das Recht beugen, ob in Silvio Berlusconis Italien oder in Viktor Orbáns Ungarn. Das gilt aber auch für Bürger, die auf die Politik pfeifen und bei Wahlen zunehmend Abstinenz üben, statt sich zu engagieren und sich einzumischen. Das ist das Gegenteil von dem Geist, mit dem 1989 mutige Menschen die Welt verändert haben.
Bericht aus den Salzburger Nachrichten vom 8. Nov. 14